Amerika

Kafka - Amerika - Dessau 2009
New York - Foto: Thomas Beyer

Kafka ist einer der Schriftsteller, über die ein Vielfaches der Anzahl an Seiten geschrieben wurde, die er je selbst geschrieben hat. Ich finde es erschreckend, wie viele Bücher es über Bücher gibt. Das ist so, wie wenn die Eisenbahn nur mit Leuten voll sitzt, die damit zu ihrer Arbeitsstelle bei der Bahn fahren. Oder wenn in Hollywood ständig Filme übers Filme machen gedreht werden. Das andere Gegenteil davon sind die Machenschaften, wo selbsternannte Schriftsteller über Situationen in ihrem Leben berichten, wie sie sich dabei fühlten und was sie dabei dachten. Vielleicht ist das ja manchmal sogar lesenswert, aber es gehört doch eine gehörige Portion Selbstvertrauen dazu, sich selbst so interessant zu finden, dass man das der Welt nicht vorenthalten möchte. Nichts gegen Berichte von Leuten, die wirkliches Einmaliges erlebt haben, und nichts gegen gut recherchierte Biografien. Aber zum großen Teil ist es doch ein Merkmal unserer Zeit, mit viel billiger Masse und wenig Qualität maximale Profite zu erzielen. Telefongesellschaften wollen einem ständig andere Verträge aufschwatzen, wo dieser oder jener Blödsinn mit drin ist und die aber nie billiger werden. Oder man soll am Telefon einen Vertrag abschließen, wo die Mehrkosten vom Vorleser beinah verschluckt werden. Das ist so platt. Das ist so phantasielos. Da ist null Kreativität. Oder besehe man sich die Autoindustrie. Was ist an den Autos besser geworden die letzten Jahre? Airbags, ja, sie sind sicherer. Und sonst? Vollgestopft mit sinnloser Elektronik billig aus Taiwan, aber der Spritverbrauch will und will nicht sinken. Wo ist die Innovation? Hybridautos? Die Dinger sind so schwer, dass man den größten Teil der Ersparnis braucht, um sie überhaupt auf Touren zu bringen. Vor kurzem wollte ich ein Radio kaufen. Es gab eins, das war einigermaßen spritzwassergeschützt. Nicht mal billig im Preis. Toll, kann man mal mit raus nehmen. Irgendwann hatte ich dann mühevoll einen der ganz ganz wenigen noch hörenswerten Sender eingestellt, die nicht nur die von der „Musik“-Industrie aufgezwungene Billigmassenware mit Unterbrechung durch Werbung und geistlose Kommentare bringen. Als ich das Radio aus – und wieder eingeschalten hatte wurde ich aber dann jedoch wieder durch genau so ein Werkzeug zur Volksverdummung beglückt, weil diese hier in der Gegend offenbar die stärkeren Sendemasten haben. Man muss dem Radiogeschäft zugute halten, dass es dieses untaugliche Gerät anstandslos zurück genommen hat. Billigelektronikschrott, aber nicht mal billig im Handel. Bei der Einrichtung unserer Schlafstube wurden Nachttischlampen gekauft, an deren Preis ich mich jetzt nicht erinnern möchte. Sie passen wirklich perfekt zum Rest der Schlafstube. Doch was, wenn man diese unglaublich teuren Dinger zum Leuchten bringen will, wo möglich noch im Dunkeln? Man tastet nach ihnen, dann am Fuß entlang, bis man das Kabel findet. Dann fährt man vorsichtig mit der Hand am Kabel lang, immer die Gefahr vor Augen, das Gerät könnte umkippen und der unbezahlbare Schirm kaputt gehen. Irgendwann kommt man an eine Verdickung, wo sich dann ein Schalter befindet. Nun kann man schalten. Früher gab es Nachttischlampen, die hatten einen einfachen Schalter am Fuß, und die hässliche Strippe konnte irgendwo hinterm Nachttisch runter hängen, wo sie keiner sieht. Das ist einfach unerhört. Soviel Geld für eine Lampe und dann hat sie noch nicht mal einen ordentlichen Schalter. Billig, platt, phantasielos.

New York - Foto: Thomas Beyer

Wie gut tut es dann, ein Original zu lesen, das Substrat, von dem so viele im Nachhinein profitieren, bei dessen Produktion nicht Aktienkurse und Verkaufszahlen das alles Bestimmende waren. Freilich fließen da persönliche Erlebnisse mit ein, warum auch nicht. Letztendlich besteht jedes Lebewesen nur aus dem, was es irgendwann gegessen hat, und trotzdem sind wir, jedenfalls in der Regel, einem Schwein oder einem Kohlkopf ziemlich unähnlich. Und so sind Kafkas Geschichten Zeugnisse eines grenzenlosen freien Geistes, voller Phantasie und mit einem unerhörten Vorstellungsvermögen. Er versetzt sich in die Figuren und schreibt aus deren Blickwinkel so bildlich und exakt, dass man beim Lesen alles um sich her vergisst und sich an der Stelle des Helden wähnt. Das Besondere bei Kafka ist immer, dass man es nie ganz versteht. Man kann versuchen, hinein zu deuten, was man will, nie passt es so richtig. Meist vermutet man eine Macht im Hintergrund, die irgendwie alles steuert. Die Helden geben sich die größte Mühe, erreichen auch einiges. Doch wenn es die Macht im Hintergrund nicht will, gelingt es einfach nicht. Am Schlimmsten dran ist K. im Prozess, der am Ende irgendwie hingerichtet wird, und offenbar bis zum Schluss nicht weiß, warum eigentlich.

Oder weiß er es doch? Hat er nicht doch irgendwas begangen, und die Gerechtigkeit nimmt nur ihren Lauf? Oder der Landvermesser K. War er überhaupt Landvermesser? Wurde er wirklich vom Schloss bestellt? Man weiß es nicht. Aber es gibt unglaublich viel Details, die einen immer wieder an das eigene Leben erinnern. Und dann immer diese maßlosen Übertreibungen. Beim Prozess gibt es in allen möglichen Häusern in der Vorstadt Amtsstuben auf den Dachböden mit Unmengen von Beamten und deren Dienern. Oder die Aktenberge beim Schloss, die Wartezeiten der Bauern, wenn sie einen Beamten sprechen möchten, und die unglaubliche Faulheit und Selbstherrlichkeit dieser Beamten, die dann noch vom Volk förmlich vergöttert werden. K. erreicht nie etwas, obwohl immer redegewandt und seine Mitmenschen doch beeindruckend, jedenfalls die weiblichen. Wenn er glaubt, die Lage richtig eingeschätzt zu haben und seinen Trumpf ausspielen zu können, so klappt das aber nie wirklich. Er tritt immer auf der Stelle.

Bei Amerika nun ist sicherlich auch diese Macht im Hintergrund. Im Theaterstück wird sie aber sehr offenbar, nämlich als Mister Eagle. Der nimmt Karl von Anfang an in Empfang und taucht immer wieder auf, wenn eine Wende in Karls Leben eintritt.

Anstatt von der Freiheitsstatue mit der Fackel wird Karl von einer mit einem Schwert in Empfang genommen, die dadurch an Justitia erinnert. Von einem Menschen dargestellt, ist sie gegen die kleine Puppe Karl sehr groß. Karls Puppe verkörpert überhaupt sehr gut seinen etwas naiven, doch stets ehrlichen und strebsamen Charakter.

 Mr. Eagles Erscheinung ist ein recht hässlicher Vogel, der vorgibt, ein Freund von Karls Onkel zu sein, doch es gibt Aspekte, die dem auch wiedersprechen. Im Buch gibt es Mr. Eagle nicht, doch es tauchen von Zeit zu Zeit mysteriöse Figuren kurz auf, deren Stelle Mr. Eagle einnimmt, ein geschicktes Mittel um den umfangreichen Stoff in ein Theaterstück zu packen, ohne dass zu viel verloren geht und der Charakter gewahrt bleibt.

New York - Foto: Thomas Beyer

Doch nicht nur Karls Puppe lässt sehr gut den ihr eigenen Charakter erkennen, auch alle anderen. Der Onkel ist der reiche Fabrikant, der ein Herz für den Neffen hat. Delamarche und Robinson sind wirklich so hässlich und abstoßend wie ihr Charakter. Die Szenen mit ihnen sind absolut gelungen. Bei der Oberköchin wurden allerdings durch eine hässliche Lache Charakterzüge angedeutet, die ich im Buch nicht erkennen konnte. Therese und Klara waren ebenfalls brillant, womit die Eckpfeiler gesetzt waren.

Der Gedanke bei dem Buch liegt nahe, dass der Onkel den Neffen absichtlich, wenn auch schweren Herzens, in die Welt geschickt hat, um ihn möglicherweise später zu seinem Nachfolger zu machen, ja dass er ihn vielleicht sogar aus diesem Grund aus Deutschland geholt hat. Er soll nun, nach dem er die Sprache beherrscht, Erfahrungen sammeln und wird dabei ständig überwacht, wobei die Erfahrungen schon recht heftig sind. Im Theaterstück wird das allzu deutlich gemacht durch den allgegenwärtigen Mr. Eagle, der alle Welt zu kennen scheint und bei allen Entscheidungen beteiligt ist. Nach meinem Geschmack zu überdeutlich. Es wird dadurch manches festgelegt, was im Buch noch offen ist. Auch hätte man die wertvolle Zeit besser nutzen können als mit undefinierbaren Szenen, möglicherweise Traumszenen von Karl, wo Mr. Eagle als Schaffner auftaucht und dann sogar mal erschossen wird, dann wieder weiterlebt. Diese Szenen finden im Buch keine Entsprechung und ich verstehe sie nicht. Auch will im Theaterstück Karl in einer Szene freiwillig in das Auto mit Robinson steigen, was völlig unverständlich ist und dem Buch auch völlig widerspricht. Klar muss man in der Handlung Zugeständnisse auf Kosten von Details machen, doch müssen grundsätzliche Tatsachen erhalten bleiben. Und dazu zählt nun mal Karls Abneigung gegen Delamarche, der Robinson geschickt hatte.

Trotz alledem, die Handlung kommt sehr gut rüber. Es wurde geschafft, viel Handlung in ein relativ kurzes Theaterstück zu verpacken, wobei die Eigentümlichkeiten eines Kafka auch noch irgendwie erhalten bleiben. Alles Wesentliche wird gezeigt und man versteht die Charaktere und deren Beweggründe sehr gut. Kafka hat es nun endlich geschafft, einen seiner Helden nicht untergehen zu lassen und ihm am Ende des Buches eine günstige Zukunft beschert, wenn auch recht skurril und unwahrscheinlich amerikanisch.

Thomas

New York - Foto: Thomas Beyer