Kann man in 80 Minuten die Geschichte der Welt völlig wahrheitsgemäß darstellen?
Es geht, sofern es die drei genialen Schauspieler/in Rainald Grebe, Tilla Kratochwil und Lars Frank tun und diese ein Theatrum Mundi zur Verfügung haben. Was sie dann auch im Puschkinhaus in Halle taten.
Das Theatrum Mundi wurde im März 2017 in einem alten Schiffscontainer gefunden, rostig aber voll funktionstüchtig.
Im Puschkinhaus mit seinem baulichen Zustand und den herumhängenden Puppen hatte man schon das Gefühl, in einer Parallelwelt zu sein, bevor man den Saal betrat.
Im Saal dann waren neben einer bunten Wand auf der Bühne links und rechts Tafeln wie in einer Kirche, wo die Choräle für den Gottesdienst angeschlagen wurden. An der linken stand drüber “Alt”, an der rechten “Neu”. Ich kenne das nur aus der Zeit, als die Gesangbücher getauscht wurden, aber da standen dann unterschiedliche Nummern dran. Hier jedoch war auf beiden die 449 Vers 1u7 zu lesen. Ein sichtlich schlechtgelaunter weil sich scheinbar unterfordert fühlender Kirchendiener in weißem Gewand war dabei, weitere anzustecken. In der nächste gefühlten Viertelstunde kamen also noch 201, 321 und 521 hinzu. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, da auch eine 362 gesehen zu haben. Rechts stand ein Harmonium. Da ich tatsächlich schon mal, allerdings nur mit einem Finger, auf so einem Ding gespielt habe, nutzte ich die Gelegenheit, meine Begleiterinnen (eine davon 10 Jahre alt) zu beeindrucken, indem ich erklärte, die zwei Pedale unten wären zum Luft pumpen da.
Die Vorstellung begann, indem Rainald Grebe, wie die anderen dann auch, ebenfalls weiß begleitet und mit langer Perücke als Marionette auftrat und den Mund zu einer Frauenstimme auf und zu machte. Dann öffnete sich die bunte Wand, und das Wunderwerk der Technik, das Theatrum Mundi, war zu sehen. Es wurde die Schöpfung aus der Bibel gezeigt, indem das Hintergrundbild, sicherlich mit etwas modernerer Technik, wechselte und Gegenstände davor hin und her fuhren. Einige der Spuren, auf denen sich die Dinge bewegten, gingen von links bis rechts durch, andere von links und rechts bis zur Mitte. Nun stand der Kreativität nichts mehr im Wege. Der zugehörige Bibeltext wurde von Tilla Kratochwil ausdrucksstark durch einen Sprachtrichter vorgetragen. Dann setzte sie sich ans Harmonium und sang tatsächlich die 449 aus dem EG (Evangelisches Gesangbuch) die Strophen 1 und 7. Leider muss ich dazu sagen: Ich habe das Lied hunderte Mal gehört und auf der Trompete gespielt. Aber als sie es da sang und sich auf dem Harmonium begleitete, liefen mir kalte Schauer über den Rücken. Tatsächlich hat mich noch nie ein Choral so tief beeindruckt, obwohl ich die alle rauf und runter gespielt hab. Ähnlich war es später auch bei Rainald Grebe, als der sang. Die 521, Oh Welt ich muss dich lassen, war dann später noch zu hören. An die 201, Gehet hin in alle Welt und die 321, Nun danket alle Gott, kann ich mich nicht erinnern, die gehört zu haben.
Es wurde dann sehr anschaulich die Schlacht von Marathon gezeigt, indem unter einer weißen Flagge kämpfend etwa fünf Soldaten aus dem demokratischen freiheitlichen europäischen Griechenland von links kamen, während vielleicht 15 unzivilisierte Perser mit der schwarzen Flagge von rechts die Maschine befuhren. Es wurde glaubwürdig versichert, dass die Farbe der Flaggen keine Wertung bedeute, sondern zufällig gewählt war, da die wirklichen Farben nicht mehr bekannt seien. Man wollte ja bei der Wahrheit bleiben. Die Schlacht wurde von den Griechen in großer Minderheit wegen Vorteilen im Gelände gewonnen, sonst würde es wohl heute unsere freiheitliche Welt so nicht geben, wie ich das verstanden habe. Diese wichtige Nachricht musste ja nun überbracht werden, und der legendäre Marathonlauf wurde überzeugend dargestellt, indem ein irgendwie immer kleiner werdender Läufer immer abwechselnd von links nach rechts und zurück über die Maschine fuhr, jeweils eine Spur weiter hinten. Das wurde sowohl vom stetig langsamer werdenden Pusten am Harmonium, welches wohl etwas zweckentfremdet wurde, begleitet, als auch von den Gedanken des Läufers, der die Idee dann doch nicht mehr so gut fand. Als er sein Ziel erreicht hatte, kam nur noch ein “Wir haben…” und tot der arme Kerl. Ich denke das war dann doch nicht ganz korrekt, denn meines Wissens hat er die Nachricht schon noch überbracht.
Zwischendurch wurden Schränke der Wunderkammer mit Exponaten unter anderem der Franckschen Stiftung geöffnet, und z. B. Minerale fuhren bis hinter einen Bilderrahmen und wurden dort mit Namen und Herkunft kommentiert. Eins, was erst aus Greiz sein sollte, war schon weiter gefahren und musste dann wieder zurück, weil es dann doch aus Schleitz war, und als es endlich wieder losgefahren war, musste es doch wieder umkehren, da es letztendlich aus Zeitz war, bis es, nun völlig verunsichert, nur noch sehr zögerlich von der Bühne fuhr. Naja, jeder macht mal Fehler.
Zwischendurch wurde auch von Rainald Grebe mal eine neue App auf seinem Handy vorgestellt, wo er die neuesten Verkehrsmeldungen, Fußballergebnisse, Nachrichten und Klatsch und Tratsch erfuhr. Während sein Leben vorher ziemlich sinnlos war ist er jetzt glücklich.
Es gab noch sehr anschaulich den Ausbruch des Vesuvs, wie er Pompei verschüttete, die Kreuzzüge wurden übergangen weil das Mittelalter so langweilig war. Bei der Entdeckung Amerikas machte es erst den Eindruck, als wäre das Schiff von Columbus doch am Rand der Weltscheibe runtergefallen, aber es tauchte wieder auf und fuhr, und fuhr, und fuhr.
Ein Brand in Lissabon wurde an Allerheiligen von einem Erdbeben ausgelöst und der anschließende Tsunami hat Lissabon dann auch noch überschwemmt. Begleitet wieder hervorragend von Rainald Grebe, der am Harmonium “Ein feste Burg ist unser Gott” sang, allerdings sich dabei ständig unterbrach und sich über Gott Gedanken machte, was der sich wohl dabei gedacht hat zu seinem Feiertag, und überhaupt, wieso es denn Krieg und Elend gäbe und ob es auch sein Plan war, dass er gerade angezweifelt wurde. Er sang den Choral dann mit einem abgeänderten Text zu Ende, mit dem Schluss, dass Gott alles ziemlich egal sei. Deshalb war der Choral wohl auch nicht angeschlagen.
Nach der französischen Revolution mit ausführlicher Vorführung einer Guillotine wurde noch detailliert über die Schlacht bei Waterloo berichtet, und dass für Napoleon, der offensichtlich die größte Sympathie des durch Lars Frank verkörperten Erzählers hatte (“hätte er gewonnen hätten wir da schon 1919 gehabt”) einfach alles schief gelaufen ist. Sein Bruder sollte einen Scheinangriff durchführen und hat das viel zu ernst genommen und anstatt das Lager der Engländer zu schwächen schwächte er das der Franzosen – “Ein Scheinangriff, was ist daran nicht zu verstehen?” Aber er konnte immer noch gewinnen, doch der Vortrag wurde nun durch die erste Lok mit einer Dampfmaschine und weitere Erfindungen des 19. Jahrhunderts ständig unterbrochen.
Zwischendurch wurden durch Tilla Kratochwil immer wieder Gegenstände aus mystischen Kabinetten, wovon es sechs in Halle gab und die die gesamte Welt zeigen sollten und wo jedes ein Krokodil hatte, vorgestellt, die allerdings nicht immer ganz seriös zu sein schienen. Doch der versteinerten Miene der Darstellerin war zu entnehmen, dass sie die Sache sehr ernst nahm.
Irgendwann wurde ein Spiegel angebracht. Die Geschichte kam der Gegenwart immer näher, und unsere männlichen Erzähler sahen sich nun selbst als Teil davon und begannen, ihre Wichtigkeit hervorzuheben – das Weltgeschehen wurde als unwichtig abgetan – und sich gegenseitig zu übertrumpfen, wo eigentlich keiner mehr dem anderen zuhörte. Zwischendurch wurden Reifenteile auf der A14 und Fußballergebnisse bekannt gegeben, das geschah ja alles dann schon genau in dem Moment und man konnte damit angeben, es zu wissen. Und alles was aktuell war musste auf die Maschine, und als dann durch die Hast dem, der die Maschine im Verborgenen bestückte, die Hand abgerissen wurde, und die dann auch gezeigt wurde, da war die Freude des Kommentators groß.
Tilla Kratochwil zeigte dann eine Aufnahme der drei Darsteller von 1998, als sie einen Faust gespielt hatten. In der Szene versuchte Faust, dargestellt durch Reinald Grebe, erst sehr schüchtern, Gretchen zu begleiten, doch die wollte nicht, Mephisto hat sich halb kaputt gelacht, dann drehte die Uhr die Zeiger etliche Stunden zurück (die Schauspieler machten dazu die entsprechenden Bewegungen), und es gab einen erneuten Versuch. Eigentlich war es ja wieder der erste, da ja die Zeit zurückgesetzt worden war. Diesmal war Faust wesentlich entschlossener, und Gretchen konnte gerade noch die Handtasche zwischen seine Hände und ihre Brust ziehen. Beim dritten Versuch ist sie dann einfach gegangen.
Allein wegen dieser Szene hätte sich der Besuch schon gelohnt. Aber es war weit mehr. Die Schauspieler, bekannt unter anderem durch den “Quatsch Comedy Club” (Rainald Grebe) und verschiedene “Tatort”s (Tilla Kratochwil) brillierten so überzeugend, dass es seinesgleichen sucht. Und wir hatten das Glück, das aus nächster Nähe erleben zu können. Man hat die Maschine respektvoll in den Mittelpunkt gestellt und alle ihre Funktionalität voll ausgenutzt, bzw. Sie unauffällig durch moderne Technik aufgepeppt. Es wurden alle möglichen Gegenstände, die man offenbar irgendwie zur Verfügung hatte, eingebaut, ob sie passten oder nicht. Für ein Fahrrad musste schon mal ein Ruderboot herhalten, wo die Paddel die Stützräder waren, oder weil gerade eine Draisine da war wurde sie mal eben in die jüngere Geschichte (Betrunkene hatten sie angeblich auf die Schiene des ICE bzw. Autobahn gestellt) eingebaut, Phantasiewesen (Chimären) wurden als Beispiel genutzt, dass es Gott egal ist, was die Menschen machen, vielleicht eine Anspielung auf die Gentechnik. Schrill Komisches gab es direkt neben sehr Ernstem, wo z.B. im ersten Weltkrieg die Soldaten in Form von Eiern durch einen Tank massenweise weggemäht wurden. Die Menschen nehmen sich selbst immer wichtiger, sind sensationsgierig und von ihrem Handy abhängig, weil sie glauben, da die lebensnotwendigen Informationen zu bekommen, während solides Wissen keinen mehr interessiert.
Da wurde uns der Spiegel vorgehalten, und es war einfach gut!