On the Edge in Weimar

Saure Gurke mit Herz
Saure Gurke mit Herz

Im legendären Nationaltheater in Weimar, wo 1919 von der Nationalversammlung die Verfassung für die nach dieser Stadt benannten Republik beschlossen wurde, waren wir an einem verregneten 11.Mai 2019 zur Premiere und Uraufführung des Stückes On the Edge. Mit Tanz, Musik und Sprache sollte es sein, ziemlich ungewöhnlich. Da wird man natürlich neugierig. 

Wir saßen in der Mitte in der ersten Reihe. Es gab keinen Orchestergraben und demzufolge Konservenmusik und die Bühne ging bis zu einem Meter an uns ran. Da waren schon ein paar Personen mit interessanten Gesichtern auf der Bühne, ohne irgendeine erkennbare Anzugsordnung. Die Musik begann, laut, stark rhythmisch, wenn ich mich recht entsinne (das war sie jedenfalls meist) und sehr angenehm. Die Tänzer bzw. Schauspieler, die einen offenbar das eine mehr und die anderen das andere, wie sich später herausstellte, aber alle immer überzeugend gut, kamen mit interessanten Bewegungen “angetanzt”. Das war schon mal gut, es waren fünf Männer und fünf Frauen.   

Und schon ging auch das Sprechen los. Die Frauen bekommen weniger Geld, haben schlechtere Berufschancen, müssen sich Führungspositionen viel härter erkämpfen, sind ständig Opfer anzüglicher Bemerkungen, werden ständig betatscht usw. usw. usw. Ich dachte darüber nach, wie es in unserer Firma so ist. Es ist eine internationale amerikanische Firma mit vielen Frauen als Leiter, wenn auch sicherlich weniger als Männern. Was ich so sehe, werden die Frauen überall genauso nach ihrer Leistung eingeschätzt wie die Männer. Ich habe nie erlebt, dass eine Frau hier wegen ihrem Geschlecht respektlos behandelt wurde oder dass es blöde Witze gab. Wenn es diese gab, war das völlig geschlechtsneutral. Soweit ich das einschätzen kann, verdienen sie in der vergleichbaren Position auch das gleiche Geld wie ein Mann. Natürlich ist es anderswo anders, aber dafür kann ich nichts und ich kann es auch nicht ändern. Ich lese das in jeder zweiten Zeitung und höre es gefühlt in jeder dritten Radiosendung. Und jetzt hier. Echt jetzt? Sind die wirklich so platt? Ich war drauf und dran zu gehen.  

Doch es kam anders. Ein armes Kerlchen voller Selbstzweifel jammerte darum, und er wollte auch so tanzen können wie der andere da, der da gerade tanzte und den die Frauen bewunderten. Ja, dann hatte man Chancen. Der Tänzer dann fragte nach seinem Tanz ebenfalls voller Selbstzweifel einen anderen, ob er denn gut aussehe. Etliche Male. Der Ärmste musste wiederum auch getröstet werden. Zwischendurch immer wieder Musik und Tanz. Man fragte sich dann schon: Was kommt als nächstes.  

Eine Frau erklärte mehrmals an passender oder auch völlig unpassender Stelle, als ob sie ihre Umgebung gar nicht wahr nimmt, dass Frauen ja jetzt immerhin LKW – Fahrer oder Pilotin werden könnten. Nervende Phrasendrescherei. Es gab Szenen in Partnerschaften, die auch mal funktionierten. Dann eine Eifersuchtsszene von einem Mann, weil seine Partnerin sich mit einem anderen getroffen hat. Auf sein Nachfragen sagte sie, der andere fragte sich, wieso sie ausgerechnet bei ihm wäre. Und sie hat nichts drauf geantwortet, und was sie denn hätte auch antworten sollen. “Das weiß ich doch nicht.” “Na eben, und ich auch nicht”.  

Jedenfalls wurde vom Publikum viel gelacht, wo ich absolut keinen Grund gesehen habe, im Gegenteil, mir ist es oft im Halse stecken geblieben. Das war ziemlich starker Tobak. Dann wieder Tanz, wo Frauen sich offensichtlich von ihren Partnern gelangweilt fühlten, Partnerwechsel. Ein Mann schämte sich für sein Geschlecht, da ja Donald Trump und viele weitere, ich erinnere mich, dass AfD Leute dabei waren, ja auch männlich sind.  

Mir wurde der Titel des Stückes immer klarer.  

Ein Höhepunkt war sicherlich eine ausdrucksstarke Rede eines Darstellers. Er erklärte immer lauter werdend, was ihm alles egal sei. Das fing harmlos an, ging über Guantanamo und Plaste im Meer und Klimawandel und endete bei Kriegen, Hungersnöten, Völkermorden usw.. Was ist einem selbst denn eigentlich alles so egal. Und was nützt es, wenn es einem nicht egal ist? Rette ich einen Fisch, wenn ich CO2 erzeugend ans Meer fahre und dort Plastik sammle?  

Einer erklärte, Bob Marleys “No woman no cry” sollte man doch mal richtig übersetzen, nämlich: Frau hör auf rumzuheulen!  

Und da war dann diese Frau, die jetzt endlich Ruhe hat und seitdem glücklich und zufrieden ist. Zuvor hatte sie einen Mann und zwei sehr lautstarke Söhne, die alle nur einsilbige laute Geräusche von sich gaben. Als diese mal wieder Fußball schauten, fiel ihr die Schüssel aus der Hand und es hat keinen interessiert, die haben nicht mal den Kopf gedreht. Da machte sie eine neue Schüssel und mischte Insulin hinein. Zusehen wollte sie dann aber nicht, sie hat nur hinterher aufgeräumt und die Überreste in den Keller geschafft. Jetzt geht es ihr gut. 

Das Ganze wurde schon etwas anstrengend, und das war ganz sicher so gewollt. Manche Sachen hab’ ich schlichtweg nicht verstanden, die mir demzufolge entfallen sind. Jedenfalls kam dann ein Schuhplattler oder wie das heißt, ja die Leute haben Kondition, dann Verneigen und Beifall. Sehr viel Beifall. Also Schluss nach 100 min. Da wurde der Schuhplattler plötzlich wieder aufgenommen und es kam lustige Stimmungsmusik mit Bierzeltatmosphäre. Die Männer trugen Frauenkleider. Und das Publikum (nicht das Ganze, nicht nur ich nicht), klatschte fröhlich mit. Häh, glauben die wirklich, dass man nach so einem Hammer fröhliche billige Volksmusik zur Entspannung macht? Und es kam wie es kommen musste. Die Pärchen tanzten erst immer ausgelassener, was die Stimmung offensichtlich anheizte. Dann torkelten sie immer mehr, die Frauen fielen hin, die Männer wurden brutaler. Einer kam direkt auf mich zu, seine Partnerin tragend, bis an den Bühnenrand. Ich war mir sicher, der schmeißt die jetzt auf mich drauf. Ich rechnete schnell durch, dass ich sie zumindest so abfangen konnte, dass sie nicht auf die Armlehne knallte. Ich brachte meine Arme in Bereitschaft, da sah mich der Darsteller an, feixte kurz und schüttelte leicht den Kopf. Ok, dann eben nicht. Inzwischen spielte sich im Hintergrund eine Vergewaltigungsszene unter einem Tisch ab. Das Klatschen und die fröhliche Stimmung waren nun irgendwie abgestorben. Jaja, so leicht lässt man sich von der Oberfläche überzeugen und klatscht dumm nach der Pfeife der anderen, ist schon peinlich. 

Als sich die Künstler nun ein zweites Mal verneigten, war der Beifall eher spärlich, aber nicht meiner.